Heißes Glas aus Breslau

„Wir waren ein eingeschlossenes Land”, sagte mir Barbara Idzikowska, die inzwischen international bekannte Künstlerin, die von 1983 - 1985 an der Akademie der Bildenden Künste in
Breslau studiert hatte, bei meinem letzten Besuch der Stadt. Vielleicht ist dies der Schlüsselsatz zum Verständnis der pulsierenden Entwicklung, die seit einigen Jahren in der Glaskunst Polens zu
beobachten ist. Die Studierenden und ihre Lehrer schwärmen aus in die angrenzende Tschechische Republik,

um neuartige Techniken zu erproben. Sie suchen den persönlichen Kontakt zu „Artists in Residence” im Musée du Verre im französischen Sars Poteries, in Schottland im Zentrum North Lands Creative Glass oder in den USA im Corning Glasmuseum. Sie nehmen teil an internationalen Wettbewerben wie Kazimierz Pawlak am diesjährigen Coburger Glaspreis (Kat. 2014, S. 179), oder sie bestreiten eine ganze Gruppenausstellung mit dem Titel Zu Gast: Polen/Glass made in Wroclaw im Glasmuseum Alter Hof Herding in Coesfeld-Lette. Das Erstaunlichste aber ist, dass die Künstlerinnen und Künstler trotz dieser Umtriebigkeit in sich ruhen, bei sich bleiben. Augenscheinlich sind sie tief verwurzelt in der jahrhundertealten
Glasmacher-Tradition ihres Landes, dem früheren Schlesien als zentraler Region, und gleichzeitig sind sie neugierig, experimentierfreudig, offen für Anregungen von außen, wie ihre Werke vergegenwärtigen: eine andere Form von Globalisierung in der Kunst. Der Keim für diese
Entwicklung wurde 1946 mit der Neugründung der Hochschule für Bildende Künste in Breslau gelegt, die in der Folgezeit ihren Namen mehrfach gewechselt hat. Schon im Jahr darauf entsteht die Fakultät für Glas und Keramik, heute ist sie eine Ausbildungsstätte auf hohem Niveau entsprechend allgemeingültigen Standards. Die Studierenden erlernen Heiß- und Kalttechniken für die Gestaltung von künstlerischen Objekten wie von Gebrauchsglas. Es
bleibt ihnen freigestellt, sich in den Klassen für Malerei, Bildhauerei oder Grafik einzuschreiben, um den Cross over zu wagen, und als bahnbrechende Neuerung für ihr Land können sie sich seit 2013, seit der Installation eines großen Glasofens in einem Anbau der Akademie, auch mit dem
Hotglass-Arbeiten auseinandersetzen. In diesem Herbst hat auf Betreiben des Leiters der Glasklasse, Mariusz Labínski, sogar ein Hotshop mit tschechischen Glasbläsern stattgefunden.
Eindeutig spielen hier ausländische Einflüsse mit hinein. Aber schaut man den Studierenden beim Zeichnen, Entwerfen, Formgestalten zu, was unter eingehender Betreuung durch die Professoren oder Dozenten geschieht, fällt auf, dass sie ihre Ideen nicht, wie in Westeuropa oder den USA oft üblich, auf Basis der Austauschbarkeit des Werkstoffs entwickeln. Vielmehr respektieren sie dessen Materialeigenschaften und versuchen ihm im Zusammenklang mit einer bestimmten handwerklichen Technik ungeahnte Botschaften zu entlocken. Vor diesem Hintergrund fasziniert
es zu sehen, wie kühn die Künstlerinnen und Künstler ihre gestalterischen Möglichkeiten ausloten. Um die ertastbare Stofflichkeit von Textilien vorzutäuschen, setzt etwa Kazimierz Pawlak Glasfasern bei seinen Objekten ein, die er häufig öffnet, damit das Innere zum Vorschein kommt. Barbara Idzikowska verschmelzt bei ihrer Installation Sleeping...and colour samples Glasstäbe miteinander, so dass ein scheinbares, Falten werfendes Gewebe entsteht (vgl. GH 4/14, S. 26; NG 2/14, S. 9). Es bedeckt fast vollständig einen sich schemenhaft abzeichnenden Frauenkörper, der in Wirklichkeit gar nicht existiert, obwohl die aus dem „Tuch” herausschauenden, massiven gläsernen Füße jene Illusion nähren. Das verleiht der Gestalt Entrücktheit, ein Eindruck, der noch verstärkt wird durch die unterhalb der Decke aufgehängten Glasbilder mit gemalten, raffaelesk anmutenden Madonnengesichtern. Ähnlich raumgreifend wirkt Monika Rubaniuks Installation The Series Epidemy Vibrio, die 2014 vielleicht in Reaktion auf die augenblicklich grassierende Ebola-
Epidemie entstanden ist. Über einem am Boden liegenden, unförmigen hellblauen Gebilde, aus dem unzählige Polyester-Spitzen herausragen, schweben bedrohlich durchsichtige „Wolken”, eine davon schwarz. Darunter scheint sich ein Armadillo (Gürteltier) in Gestalt eines dunkelvioletten Klumpens zu ducken, dessen Körper mit lauter Glasscherben bestückt ist.
Marzena Krzeminska-Baluch, die Assistentin von Mariusz Labínski, versucht bei ihren Arbeiten „die optische Qualität von Glas mit grafischen Elementen” zu verbinden, was besonders
einprägsam in der Harbour betitelten Wandinstallation zum Ausdruck kommt. In den beiden zeichnerisch aufgefassten Glastafeln, die eine weiß mit schwarz reliefierten Wellen, die andere schwarz mit unmerklichen weißen Kräuseln, beschwört die Künstlerin Erinnerungen an ihre „Residency” in North Lands Creative Glass. Durch
das Meeresrauschen, das aus dem Laptop am Boden erschallt und die schwarzen, von Kieseln abgeformten Glassteine unterstreicht sie zusätzlich die Stimmung. Entsprechend verbindet
die junge Kalina Banka Malerei und Glas bei ihren Arbeiten, indem sie die herkömmliche Bleiverglasungs-Technik überschreitet, farbige Gläser miteinander verschmelzt und sie anschließend mit Email bemalt. In ihren großflächigen zusammengehörigen Wandbildern, die formal einem Zwei-Flügelaltar ähneln und den Titel The Seven Deadly Sins in XXL size tragen,
stellt sie die Todsünden durch Tiersymbole und aufreizende Frauenfiguren dar. Die Farben sind
bewusst grell bunt, die gegenständlichen Motive vordergründig plakativ angelegt, so dass in
Ausstellungskommentaren zu Recht von „Street Art”, von Graffiti die Rede ist. Auch die Arbeit an der Gebläseflamme, das Lampworking, wird in der Breslauer Akademie gelehrt. Die Leiterin der Abteilung ist Beata Damian-Speruda, eine ehemalige Schülerin der heute in Seattle lebenden
Anna Skibska, die als eine der ersten weltweit monumentale Werke in Flameworking geschaffen hat. Die jetzige Professorin zeigt in einer Installation eine meditativ anmutende Ansammlung aufgefädelter roter Perlen, die Erdbeeren gleichen, gläserner Äste und dazwischen einen durchsichtigen Totenschädel unter einer gehörnten Glasglocke, alles im Miniatur-Format. Die Polen seien voller Angst und Schrecken angesichts der durch die Ukraine-Krise ausgelösten, allgemeinen politischen Lage, sagte mir Barbara Idzikowska, auch sie eine ehemalige Schülerin von Anna Skibska, noch bei unserem Gespräch.